Darf ein Apotheker die Abgabe der „Pille danach“ aus Gewissengründen verweigern?

Entscheidungen in Leitsätzen

Az.: 90 K 13.18 T

Berufsgericht für Heilberufe bei dem Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 26. November 2019. Az.: 90 K 13.18 T

ApoG  §  1  Abs.  1; BApO § 1; ApBetrO §17  Abs.  4; BDSG §  4  Abs.  1; KammerG Berlin § 16 Abs. 2 Satz 1; BlnHKG Berlin § 92; BO der Apothekerkammer Berlin § 2, § 3, § 10 Abs. 2; GG Art. 4 Abs. 1

Leitsätze der Redaktion:

Aus dem Wortlaut des § 17 Abs. 4 ApBetrO folgt keine Pflicht zur Vorratshaltung – erst recht nicht bezogen auf nicht verschreibungspflichtige Mittel. Wer nicht zur Vorratshaltung verpflichtet ist, dem kann auch nicht vorgeworfen werden, dass er objektiv nicht in der Lage war, die „Pille danach“ abzugeben. Ein Apotheker, der die „Pille danach“ im Notdienst nicht abgeben kann,  verstößt nicht gegen seine Berufspflichten.

Die Frage, ob Gewissensgründe den für Apotheken grundsätzlich bestehenden Kontrahierungszwang durchbrechen können, ist  verfassungskonform durch eine Abwägung der betroffenen Grundrechte im Einzelfall zu lösen.

Solange die „Pille danach“ verschreibungspflichtig war, konnte es ein Apotheker trotz grundsätzlich bestehenden Kontrahierungszwangs im Einzelfall aus Gewissensgründen ablehnen, diese zu beschaffen, wenn eine bewusste Provokation durch die Kundin vorlag.

Hinweiszettel zu Verhütungsmitteln mit im weitesten Sinne wissenschaftlichen und religiösen Ansichten können gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 KammerG nicht Gegenstand eines berufsgerichtlichen Verfahrens sein.

Tatbestand:

Der Beschuldigte ist als Apotheker approbiert und war Inhaber der U.-Apotheke, Berlin. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Berufsrechtlich ist er nicht vorbelastet.

 

Dem Beschuldigten wird nach dem Eröffnungsbeschluss vom 25. Juli 2019 zur Last gelegt, in Berlin in der Zeit von Juni 2013 bis zum 5. Februar 2017 in vier Fällen entgegen bestehender Verpflichtung die im öffentlichen Interesse gebotene Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung der Bevölkerung nicht gewährt und damit der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes nicht gedient zu haben sowie ohne gesetzliche Grundlage personenbezogene Daten zweckwidrig verwendet zu haben.

 

Im Einzelnen wirft die Einleitungsbehörde dem Beschuldigten den folgenden Sachverhalt vor:

 

1. Der Beschuldigte habe im Zusammenhang mit der Abgabe der „Pille danach“ unaufgefordert und auch gegen den ausdrücklichen Willen von Patientinnen diesen Personen Zettel mit religiös und weltanschaulich motiviertem Inhalt gegen die Anwendung der ärztlich verordneten Arzneimittel zugesteckt und in einem Fall unter Verstoß gegen Datenschutzbestimmungen die auf dem Rezept aufgedruckte Adresse der Patientin dazu missbraucht, um der Patientin den Zettel nach Hause hinterherzuschicken,

 

2. am 14. Oktober 2014 die Abgabe des ärztlich verordneten Arzneimittels „EllaOne“, sogenannte „Pille danach“, der Patientin L. verweigert,

 

sowie

 

3. am 5. Februar 2017 während des durchgeführten Apothekennotdienstes die Abgabe des apothekenpflichtigen Arzneimittels „Pille danach“ an die Patientin C. verweigert.

 

Verstöße gegen § 1 Abs. 1 Apothekengesetz, § 1 Bundesapothekenordnung, § 17 Abs. 4 Apothekenbetriebsordnung, § 4 Abs. 1 Bundesdatenschutzgesetz, §§ 2, 3 Berufsordnung der Apothekerkammer Berlin.

 

Die Anschuldigungen beruhen auf den Beschwerden der Patientinnen K. vom 18. Juni 2013, S. vom 30. September 2013, T. vom 30. April 2014 und 27. Oktober 2014 sowie der Patientin S. vom 10. Februar 2017. Der Beschuldigte hat seinen Standpunkt bei mündlichen Anhörungen in den Untersuchungsverfahren, zuletzt am 30. August 2017 erläutert. Bei der Anhörung am 26. Juni 2016 hat er sich zur Erläuterung seiner Gewissensausübung auf die Verschreibungspraxis des St. Joseph Krankenhauses berufen, das sich selbst wiederum an einer Erklärung des Erzbischofs von Köln (Kardinal Meißner) vom 31. Januar 2013 orientiert. Letzterer sieht es als nicht vertretbare Tötung menschlichen Lebens an, wenn eine befruchtete Eizelle durch die Pille danach an der Einnistung in die Gebärmutter gehindert wird. In der mündlichen Verhandlung hat er sich ferner auf die Stellungnahme des Bundesministeriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit am 30. Dezember 1986 bezogen, nach der eine Abgabeverweigerung aus Gewissensgründen zu respektieren und zu schützen sei.

 

Der Beschuldigte hält der Sachverhaltsdarstellung in der Anschuldigungsschrift entgegen, dass er stets in zurückhaltender und sachlicher Weise aufgetreten sei. Er habe schon im Ermittlungsverfahren zugesagt, dass er es zukünftig unterlassen werde, seine Informationszettel per Post an Kundinnen zu senden. Er ergänzt, dass vorab angewendete Präparate (umgangssprachlich: Antibabypille) in erster Linie ovulationshemmende Wirkung hätten, wobei auch nidationshemmende Wirkungen nicht ausgeschlossen werden könnten. Dies betreffe unter anderem die in der Anschuldigungsschrift genannten Präparate „Chariva“ und „Microgynon“. Im Gegensatz hierzu wirkten hormonelle Präparate zur nachträglichen Empfängnisverhütung (umgangssprachlich: Pille danach) auch nidationshemmend, indem sie die Einnistung einer bereits befruchteten Eizelle verhinderten. Dies treffe etwa auf das Präparat „EllaOne“ zu (Beweis: Sachverständigengutachten, Eintragung in die ABDA-Datenbank von 2014 zu „EllaOne“). Er verkaufe auf Anfrage ovulationshemmende Präparate und überreiche bei dieser Gelegenheit an die Käufer einen selbst erstellten Informationszettel. Die Abgabe der „Pille danach“ verweigere er wegen deren Wirkungsweise aus Gewissens-gründen, weil diese neben der beabsichtigten Ovulationshemmung auch die Nidation verhindern könne. Da nach seiner Überzeugung das menschliche Leben mit der Befruchtung der Eizelle durch die Samenzelle beginne, handele es sich um eine Schwangerschaftsunterbrechung, an der er sich aus Gewissensgründen nicht beteiligen wolle. Darüber informiere er seine Kundinnen in sachlicher Weise. Diese könnten das Mittel in einer anderen Apotheke erwerben. Es gebe in Berlin rund 800 Apotheken, von denen sich etwa 30 ständig im Notdienst befänden.

 

Der Beschuldigte beantragt, festzustellen, dass kein Berufsrechtsverstoß vorliegt.

 

Die Einleitungsbehörde beantragt, gegen den Beschuldigten einen Verweis zu verhängen.

 

Die Einleitungsbehörde hält an ihren Vorwürfen fest. Der Beschuldigte habe seine Pflichten aus dem gesetzlichen Versorgungsauftrag verletzt und gegen das Gebot der Sachlichkeit verstoßen.

 

Er könne sich nicht auf seine Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) berufen. Das käme einer unzulässigen Rechtsausübung gleich. Auch das Recht auf freie Berufsausübung (Art. 12 GG) sei nicht berührt. Der Beschuldigte habe zum Zeitpunkt seiner Berufsaufnahme um die Existenz von Kontrazeptiva und nidationshemmenden Mitteln gewusst. Bei Aufnahme des Versorgungsauftrages sei ihm bewusst gewesen, dass er mit entsprechenden Rezepten (bis zur Rezeptfreiheit für nidationshemmende Mittel) konfrontiert würde. Ihm sei bewusst gewesen, dass er eine Tätigkeit aufnehmen würde, die teilweise seiner Gewissensausübung widersprechen würde. Dennoch habe er sich für den Beruf des Apothekers entschieden. Es könne im Sinne des Patienten nicht dem Zufall überlassen sein, in eine Apotheke zu treten, die abhängig von Gewissensgrundsätzen des Apothekers nur teilweise dem Versorgungsauftrag gerecht werde. Dem Beschuldigten sei die Auffassung der Einleitungsbehörde durch Veröffentlichung in der Pharmazeutischen Zeitung 36/2013, Seite 48 bekannt.

 

Der Hinweis auf weitere Apotheken könne nicht greifen. Der Versorgungsauftrag treffe jeden Apotheker individuell. Der Regelungsgehalt des § 17 Abs. 4 der ApBetrO greife nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 123, 238 ff.) nicht in das Grundrecht der Berufsfreiheit ein.

Die Aufsichtsbehörde hat sich nicht am Verfahren beteiligt.

 

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die zwischen den Beteiligten im berufsgerichtlichen Verfahren gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge der Einleitungsbehörde verwiesen, deren Inhalt, soweit erheblich, Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.

 

Entscheidungsgründe:

Das berufsgerichtliche Verfahren über das dem Beschuldigten vorgeworfene Berufsvergehen aus der Zeit von Juni 2013 bis zum 5. Februar 2017 richtet sich nach dem Gesetz über die Kammern und die Berufsgerichtsbarkeit der Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Apotheker, Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (Berliner Kammergesetz – KammerG) in der Fassung vom 4. September 1978 (GVBl. S. 1937), das zuletzt durch Artikel 6 des Gesetzes vom 9. Mai 2016 (GVBl. S. 226) geändert worden ist. Nach § 92 des Berliner Heilberufekammergesetz (BlnHKG) vom 2. November 2018 (GVBl. 2018, 622) sind auf Berufsvergehen, die vor dem 30. November 2018 begangen worden sind, die bis zu diesem Zeitpunkt maßgeblichen Rechtsvorschriften weiterhin anzuwenden.

 

Das Berufsgericht kann trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Aufsichtsbehörde in der Hauptverhandlung verhandeln und entscheiden, weil auf diese Möglichkeit in der ordnungsgemäß zugestellten Ladung ausdrücklich hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 3 DiszG und § 24 KammerG).

 

I.

1. Gegenstand des berufsgerichtlichen Verfahrens sind die dem Beschuldigten unter Ziffern 2 und 3 der Anschuldigungsschrift in einer hinreichend bestimmten Weise vorgeworfenen Handlungen. Die Angaben unter Ziffer 1 der Anschuldigungsschrift sind hingegen weniger bestimmt und bedürfen der Auslegung. Da das Zustecken von Zetteln danach dem Beschuldigten „im Zusammenhang mit der Abgabe von der ‚Pille danach‘“ vorgeworfen wird, besteht ein Bezug zu den in der Anschuldigungsschrift unter Ziffern 2 und 3 umschriebenen Abgabeverweigerungen, bei denen der Beschuldigte jeweils seinen Hinweiszettel zur „Pille danach“ übergeben hat. Die weitere Handlung, „in einem Fall unter Verstoß gegen Datenschutzbestimmungen, die auf dem Rezept aufgedruckte Adresse der Patientin dazu missbraucht zu haben, um der Patientin den Zettel nach Hause hinterherzuschicken,“ kann sich zwar nicht auf die „Pille danach“ beziehen, weil sich dieses Verhalten nach den weiteren Ausführungen in der Anschuldigungsschrift auf das Arzneimittel Microgynon bezieht, bei dem es sich nicht um eine sogenannte „Pille danach“ handelt. Es ist jedoch, wenn auch ohne Angaben zum Datum und zur Person der Betroffenen, so hinreichend beschrieben, dass es sich um den Hinweiszettel des Beschuldigten zu Antibabypillen mit einem handschriftlichen Zusatz handeln muss, den die Patientin S… am 23. September 2013 als Brief erhielt. Weitere, noch hinreichend bestimmte Handlungen, die dem Beschuldigten von der Einleitungsbehörde zur Last gelegt werden, lassen sich den Angaben unter diesem Anschuldigungspunkt hingegen nicht entnehmen. Sie können daher auch nicht Gegenstand des berufsgerichtlichen Verfahrens sein.

 

Nach der Rechtsprechung des Berufsobergericht für Heilberufe Berlin-Brandenburg, der das Berufsgericht für Heilberufe Berlin folgt, muss die nach § 29 Abs. 1 KammerG mit dem Antrag auf Eröffnung des berufsgerichtlichen Verfahrens vorzulegende Anschuldigungsschrift bestimmten Anforderungen genügen, die sich an den strafprozessualen Maßstäben in Bezug auf Anklageschriften orientieren. Die Anschuldigungsschrift muss den Gegenstand des als eine Berufspflichtverletzung vorgeworfenen Verhaltens eindeutig benennen und die Grenzen des dazu unterbreiteten Tatsachenstoffs genau umreißen. Sie hat in persönlicher und sachlicher Hinsicht den Gegenstand festzulegen, über den das Berufsgericht zu entscheiden hat, und muss die Sachverhalte, aus denen das Berufsvergehen hergeleitet wird, aus sich heraus verständlich darlegen. Ort und Zeit bzw. Zeitraum der einzelnen Handlungen müssen möglichst genau angegeben, die Geschehensabläufe müssen nachvollziehbar beschrieben werden, auch wenn eine tagesgenaue Fixierung nicht verlangt wird. Nur eine derartige Konkretisierung der berufsrechtlichen Vorwürfe ermöglicht dem Beschuldigten eine sachgerechte Verteidigung und wird der Umgrenzungsfunktion der Anschuldigungsschrift gerecht (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20. September 2019 – OVG 90 H 1.18 – juris Rn. 36).

 

Zwar ist der Antrag auf Eröffnung des berufsgerichtlichen Verfahrens der Auslegung zugänglich. Dies setzt jedoch voraus, dass bei verständiger Lektüre der Anschuldigungsschrift – auch unter Heranziehung der Darstellung des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen – dieser eindeutig zu entnehmen ist, welche konkreten Handlungen dem Beschuldigten zur Last gelegt werden (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20. September 2019 – OVG 90 H 1.18 – juris Rn. 37). In der danach gebotenen Eindeutigkeit wird dem Beschuldigten von der Einleitungsbehörde nicht zur Last gelegt, dass er seine Hinweiszettel zu Antibabypillen weiteren Patientinnen übergeben bzw. zugesteckt hat. Insoweit deutet der angegebene Zeitraum von Juni 2013 bis zum 5. Februar 2017 darauf hin, dass die Einleitungsbehörde auch den Fall der Patientin K… erfassen wollte, die unter dem 18. Juni 2013 anzeigte, dass der Beschuldigte ihr einen Hinweiszettel im Zusammenhang mit der Abgabe einer Antibabypille zugesteckt habe. Gleichwohl legt die Einleitungsbehörde dem Beschuldigten ausdrücklich nur die Übergabe von Zetteln im Zusammenhang mit der Abgabe der „Pille danach“ zur Last. Die damit verbundenen Zweifel schließen eine Auslegung der Anschuldigungsschrift dahingehend aus, ihr weitere dem Beschuldigten vorgeworfene Handlungen zu entnehmen, zumal diese im weiteren Inhalt der Anschuldigungsschrift bezogen auf die Patientin K… nicht hinreichend konkret umschrieben werden. Unter II. 1. der Anschuldigungsschrift wird allein der Inhalt der Anzeige der Patientin K… umschrieben, während nicht deutlich wird, von welchem Sachverhalt die Einleitungsbehörde selbst ausgeht. Auch das Datum des Vorfalls ergibt sich aus dem Datum der Anzeige nicht. Ähnlich unklar ist der letzte Satz unter diesem Gliederungspunkt: „Ebenfalls im April 2014 überreichte er der Zeugin T… einen Flyer entsprechenden Inhalts.“ Hier könnte ein Anknüpfungspunkt vorliegen, weil der April 2014 in den oben zitierten Zeitraum vom Juni 2013 bis zum 5. Februar 2017 fällt. Ein konkretes Datum, wann der Beschuldigte den Flyer übergeben haben soll, wird jedoch nicht genannt. Darüber hinaus hatte Frau T… in ihrem Schreiben vom 30. April 2014 an die Einleitungsbehörde keinen Zusammenhang mit der Abgabe der „Pille danach“ und auch nicht mit der Abgabe einer Antibabypille hergestellt. Sie führte vielmehr ausdrücklich aus, dass die Übergabe im Zusammenhang mit einer medizinischen Beratung in einer anderen Sache, in deren Verlauf es auch um die Einnahme hormoneller Kontrazeptiva ging, erfolgte. Dieser Sachverhalt kann daher nicht den Angaben unter Ziffer 1 der Anschuldigungsschrift in hinreichend bestimmter Weise zugeordnet werden.

 

2. Das dem Beschuldigten nach dem oben genannten und hinreichend bestimmten Inhalt der Anschuldigungsschrift vorgeworfene Verhalten wird von ihm im Wesentlichen eingeräumt. Auf dieser Grundlage kann das Berufsgericht ausgehend von der Sachverhaltsdarstellung in der Anschuldigungsschrift mit geringen Abweichungen zu Gunsten des Beschuldigten und unter Berücksichtigung des Inhalts der Verwaltungsvorgänge von dem folgenden Sachverhalt ausgehen:

 

Der Freund der Patientin S. erhielt am 20. September 2013 von dem Beschuldigten zu dem verschriebenen Rezept „Microgynon“ einen Zettel, in dem zusammengefasst Alternativen zum Einsatz von Kontrazeptiva angeboten wurden. Er lehnte die Mitnahme dieses Zettels ab. Der Beschuldigte übersandte der Patientin S. daraufhin mit Schreiben vom 21. September 2013 den Zettel mit der handschriftlichen Erläuterung, er wähle diesen Weg, weil er den Zettel nicht „an den Mann“ habe bringen können.

 

Die Patientin T. präsentierte dem Beschuldigten am 14. Oktober 2014 gegen 18:30 Uhr eine ärztliche Verordnung über das Arzneimittel „EllaOne“. Der Beschuldigte lehnte unter Hinweis auf seine Gewissensfreiheit die Veräußerung des Arzneimittels ab und übergab ihr seinen Hinweiszettel zur „Pille danach“ mit dem folgenden Wortlaut:

 

„Liebe Dame, lieber Herr!

 

Der Wirkmechanismus der „Pille danach“ ist noch nicht vollständig geklärt. Einerseits wird der Eisprung gehemmt und damit eine Befruchtung der Eizelle durch die Samenzelle unmöglich gemacht. Andererseits wird die Einnistung einer bereits befruchteten Eizelle in die Schleimhaut der Gebärmutter verhindert. Da die Schwangerschaft mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnt, wird durch die Einnahme der „Pille danach“ beginnendes menschliches Leben an seiner Entfaltung gehindert. Bitte geben Sie dem Leben eine Chance!“

 

Es folgen die Kontaktdaten eines Hilfstelefons für Schwangere, eine Begründung für die Abgabeverweigerung aus Gewissensgründen und die Adresse und der Anfahrtsplan zum nächstgelegenen katholischen Krankenhaus.

 

Im Anschluss heißt es „Bitte werben Sie für einen verantwortungsvollen Umgang mit Verhütungsmitteln: Setzen Sie sich ein für eine grundsätzliche Offenheit und Bereitschaft, Kinder zu bekommen und für eine sorgsame Abwägung bei der Entscheidung für ein Verhütungsmittel – im Bewußtsein der Lebensbereicherung durch Kinder! Herzlichen, lieben Dank!“.

 

Die Patientin S. suchte gemeinsam mit ihrem Partner am Sonntag, dem 5. Februar 2017 gegen 22:00 Uhr den Notdienst der Undine-Apotheke auf und wollte die „Pille danach“ erwerben. Der Beschuldigte gab ihr das oben beschriebene Hinweisblatt und erklärte, dass sie dort anrufen und sich beraten lassen sollten. Er lehnte die Veräußerung des erbetenen Mittels ab, das sie danach in der nächsten Apotheke im Notdienst erwarb.

 

II.

1. Ausgehend von diesem Sachverhalt liegt allein in der Übersendung des Informationszettels an die Kundin S., deren Lebensgefährte bereits klar zum Ausdruck gebracht hatte, dass jedenfalls er und daraus folgend mutmaßlich auch seine Lebensgefährtin, für die die Antibabypille bestimmt war, die Überzeugung des Beschuldigten nicht teilen, eine dem Beschuldigten vorwerfbare Berufspflichtverletzung.

 

Nach § 10 Abs. 2 der Berufsordnung der Apothekerkammer vom 16. Juni 2009 (ABl. S. 2852, im Folgenden: BO) bedarf die Speicherung und Nutzung patientenbezogener Daten der vorherigen schriftlichen Einwilligung der Betroffenen, soweit sie nicht nach dem Bundesdatenschutzgesetz oder anderen Ermächtigungsgrundlagen zulässig ist oder von gesetzlichen Bestimmungen gefordert wird. Nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesdatenschutzgesetzes in der zur Tatzeit geltenden Fassung des Gesetzes vom 14. August 2009 – BDSG a.F. – (BGBl I, S. 2814 ff.) galt dieses Gesetz für die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten durch nichtöffentliche Stellen, soweit sie die Daten unter Einsatz von Datenverarbeitungsanlagen verarbeiten, nutzen oder dafür erheben oder die Daten in oder aus nicht automatisierten Dateien verarbeiten, nutzen oder dafür erheben, es sei denn, die Erhebung, Verarbeitung oder Nutzung der Daten erfolgt ausschließlich für persönliche oder familiäre Tätigkeiten. Gemäß § 4 Abs. 1 BDSG a.F. war die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten nur zulässig, soweit dieses Gesetz oder eine andere Rechtsvorschrift dies erlaubt oder anordnet oder der Betroffene eingewilligt hat. Den bei der Datenverarbeitung beschäftigten Personen war durch § 5 Abs. 1 BDSG a.F. untersagt, personenbezogene Daten unbefugt zu erheben, zu verarbeiten oder zu nutzen (Datengeheimnis). Der Sache nach folgt aus dem Bundesdatenschutzgesetz in der Fassung des Gesetzes vom 30. Juni 2017, Bundesgesetzblatt I Seite 2097, nichts anderes.

 

Der Beschuldigte geht selbst davon aus und sieht ein, dass ihm die Anschrift der Frau S… nicht zu dem Zweck überlassen wurde, ihr seinen Informationszettel zuzuschicken. Diese Nutzung ihrer patientenbezogenen Daten stellte eine Verletzung der Berufspflicht aus § 10 Abs. 2 BO dar. In diesem Fall ist auch von einem Verstoß gegen die Pflicht zur gewissenhaften Berufsausübung auszugehen. Nach § 2 BO haben Apothekerinnen und Apotheker den Beruf gewissenhaft auszuüben und dabei den Stand von Wissenschaft und Technik zu beachten. Ihr Verhalten hat dem Vertrauen und dem Ansehen zu entsprechen, das dem Berufsstand entgegengebracht wird.

 

2. Wie bereits ausgeführt, ist der Inhalt des übersandten Zettels von der Einleitungsbehörde nicht in einer hinreichend konkreten Weise zum Gegenstand der Anschuldigungsschrift gemacht worden. Unabhängig davon folgt aus dem Inhalt des Zettels keine Berufspflichtverletzung, die eine Sanktion durch das Berufsgericht erfordern kann. § 16 Abs. 2 Satz 1 KammerG steht einer berufsrechtlichen Maßnahme entgegen. Nach dieser Vorschrift, bei der es sich um eine zur Wahrung der Grundrechte der Glaubens- und Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) sowie der Freiheit von Kunst und Wissenschaft (Art. 5 Abs. 3 GG) gebotene Einschränkung handelt, können u.a. wissenschaftliche oder religiöse Ansichten oder Handlungen nicht Gegenstand eines berufsgerichtlichen Verfahrens sein (Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 4. April 2006 – OVG 90 H 1.04 – juris Rn. 20).

 

Der Beschuldigte vertritt auf seinem Hinweiszettel im weitesten Sinne wissenschaftliche Ansichten zur möglichen Wirkungsweise von Antibabypillen, bietet Beratung zu einer natürlichen Familienplanung an und wirbt für die Bereitschaft, Kinder zu bekommen. Letzteres beruht ersichtlich auf seinen religiösen Überzeugungen, wobei er selbst sich im Wesentlichen auf Gewissensgründe beruft. Diese Zettel haben seine Kundinnen, die sich an die Einleitungsbehörde gewandt haben, in nachvollziehbarer Weise als aufdringlich und ungefragt belehrend empfunden. Gleichwohl handelt es sich um die Äußerung von Ansichten, bei denen § 16 Abs. 2 Satz 1 KammerG dem Berufsgericht Zurückhaltung auferlegt. Daher greift die im Ausgangspunkt zutreffende Überlegung der Einleitungsbehörde, die gewissenhafte Berufsausübung erfordere einen sachlichen und professionellen Umfang mit den Patienten (vgl. zu einem Arzt: OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. Februar 2019 – OVG 90 H 2.18 – juris Rn. 80 ff.) hier zu kurz. Auch das Sachlichkeitsgebot verlangt nicht, sich auf die Mitteilung nüchterner Fakten zu beschränken (BVerfG, Beschluss vom 1. Juni 2011 – 1 BvR 233/10 – juris Rn. 71). Im Ergebnis handelt es sich bei den Hinweiszetteln des Beschuldigten um eine bloße Lästigkeit, der sich die Betroffenen dadurch hätten entziehen können, dass sie die Apotheke verlassen und den Zettel entsorgen oder gleich die Annahme verweigern. Entsprechendes gilt für die beiden Zettel, die der Beschuldigte übergeben hat, als er in zwei Fällen die Kundinnen nicht mit der gewünschten „Pille danach“ versorgte.

 

3. Auch die unterlassene Abgabe des Arzneimittels „Pille danach“ an die beiden Kundinnen kann dem Beschuldigten nicht als vorsätzliche Berufspflichtverletzung vorgeworfen werden. Der Beschuldigte beruft sich für sein Verhalten auf Gewissensgründe. Diese Gewissensgründe stehen bereits der Annahme einer objektiven Berufspflichtverletzung durch den Beschuldigten entgegen (a.). Jedenfalls lässt der von dem Beschuldigten angenommene Rechtfertigungsgrund den Vorwurf einer vorsätzlichen Berufspflichtverletzung nicht zu (b.). Auch wenn die Einleitungsbehörde dies nicht ausdrücklich ausspricht, geht sie erkennbar davon aus, dass der Beschuldigte vorsätzlich gehandelt habe. Dies ergibt sich aus der Erläuterung, dem Beschuldigten sei die Auffassung der Apothekerkammer Berlin durch Veröffentlichung in der Pharmazeutischen Zeitung 36/2013, Seite 48 bekannt. Damit verbunden ist der Vorwurf, er habe billigend in Kauf genommen, seine Berufspflichten zu verletzen.

 

a. Nach der Rechtsprechung des Berufsobergericht für Heilberufe Berlin-Brandenburg, der das Berufsgericht für Heilberufe Berlin folgt, begründet erst die erwiesene Schuld des betroffenen Berufsträgers an der Berufspflichtverletzung das Vorliegen eines Berufsvergehens. Das Schuldprinzip beansprucht für alle Bereiche Geltung, in denen wegen normwidrigen Verhaltens – wie hier mit einer Maßnahme nach § 17 Abs. 1 KammerG – eine Sanktion folgen soll. Vorsätzlich handelt, wer die zum gesetzlichen Tatbestand gehörenden objektiven Merkmale kennt oder zumindest für möglich hält- Wissenselement des Vorsatzes – und sich willentlich für die Tatbestandsverwirklichung entscheidet bzw. sie wenigstens in Kauf nimmt – Willenselement des Vorsatzes – (Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. September 2018 – OVG 90 H 2.13 – juris Rn. 57 f. m.w.N.).

 

Ein Handeln des Beschuldigten mit Vorsatz ist nicht erwiesen. Selbst wenn der objektive Tatbestand einer Berufspflichtverletzung zu bejahen wäre, fehlte jedenfalls das Wissenselement des Vorsatzes. Die Auffassung der Einleitungsbehörde, der Angeschuldigte könne sich nicht auf seine Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) berufen, dies käme einer unzulässigen Rechtsausübung gleich, war und ist in der Literatur jedenfalls umstritten. Eine Klärung in der Rechtsprechung ist bislang nicht erfolgt. Bei einer noch ungeklärten Rechtslage ist jedenfalls nicht erkennbar, dass sich dem Beschuldigten die Verletzung einer Berufspflicht hätte erschließen müssen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. September 2018 – OVG 90 H 2.13 – juris Rn. 60).

 

b. Unabhängig davon ist auch der objektive Tatbestand einer Berufspflichtverletzung nicht erfüllt. Dem Beschuldigten ist bewusst, dass der strafrechtliche Schutz des menschlichen Embryos erst mit dem Abschluss der Einnistung des befruchteten Eis in der Gebärmutter beginnt (§ 218 Abs. 1 S. 2 StGB). Nach seiner Auffassung entsteht schützenswertes menschliches Leben gleichwohl bereits mit der Befruchtung der Eizelle.

 

Der Beschuldigte beruft sich auf den Grundrechtsschutz des Art. 4 Abs. 1 GG. Das Grundrecht umfasst die Freiheit, nach den eigenen Glaubensüberzeugungen zu leben und zu handeln. Die Glaubensfreiheit wird zwar ohne Gesetzesvorbehalt, aber nicht schrankenlos gewährleistet. Namentlich findet die positive Bekenntnisfreiheit dort ihre Grenzen, wo ihre Ausübung durch den Grundrechtsträger auf kollidierende Grundrechte Andersdenkender trifft (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 30. Juli 2003 – 1 BvR 792/03 – juris Rn. 19).

 

Daher ist die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Kundinnen zu berücksichtigen. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleistet die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben; das bezieht sich auch auf Riten und Symbole, in denen ein Glaube oder eine Religion sich darstellen. Die Einzelnen haben in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, allerdings kein Recht darauf, von der Konfrontation mit ihnen fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben. Davon zu unterscheiden ist eine vom Staat geschaffene Lage, in welcher der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen sich dieser manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt wird (BVerfG, Beschluss vom 27. Juni 2017 – 2 BvR 1333/17 – juris Rn. 52 m.w.N.).

 

Es wird allerdings auch vertreten, es sei nicht von der Gewissensfreiheit gedeckt, wenn die Abgabe eines nicht verschreibungspflichtigen Präparates erfolge und der Kunde etwa durch einen der Packung beigefügten Hinweiszettel zu einem zurückhaltenden Gebrauch aufgefordert werde, da Art. 4 GG eine aufgedrängte Gewissensentscheidung durch den Apotheker („Missionierung“) weder decke noch die negative Glaubensfreiheit des Kunden eingeschränkt werden dürfe, die Art. 4 GG gleichermaßen schütze (Pfeil/Pieck/Blume, ApBetrO, Kommentar, Stand: 2017, § 17 Rn. 344a).

 

Von einer ausweglosen Lage für die von der Gewissensentscheidung des Beschuldigten gegen eine Abgabe der „Pille danach“ betroffenen Kundinnen kann hier jedenfalls nicht die Rede sein. Bei google maps lässt sich die geschlossene U.-Apotheke aufrufen. In dem Kartenausschnitt findet sich auf den ersten Blick in der Nähe die E.-Apotheke am K. Die Kunden des Beschuldigten konnten also, wenn sie bei einem ersten Besuch mit dessen religiösen Überzeugungen konfrontiert wurden, die Informationszettel wegwerfen und ihren Bedarf an Kontrazeptiva zukünftig in anderen nahegelegenen Apotheken decken.

 

Der Beschuldigte weist insoweit überzeugend darauf hin, dass Frau T. in ihrem Schreiben vom 30. April 2014 ausdrücklich erklärt hat, sie werde seine Apotheke nicht mehr aufsuchen. Gleichwohl hat sie ihn am 14. Oktober 2014 aufgesucht, um die ihr verschriebene „Pille danach“ zu erwerben, obwohl ihr sein Gewissenskonflikt bekannt war. Die damit verbundene bewusste Konfrontation muss in dem berufsgerichtlichen Verfahren zugunsten des Beschuldigten berücksichtigt werden. Anders verhält es sich in dem Fall der Kundin S…, die die Apotheke des Beschuldigten am 5. Februar 2017 während des Notdienstes gegen 22:00 Uhr aufsuchte. Der Beschuldigte hat allerdings in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass er objektiv nicht in der Lage war, ihr die erbetene „Pille danach“ auszuhändigen, weil er sie nicht in seinen Beständen vorrätig hatte. Nach den Angaben der Kundin ist es ihr gelungen, sich das Mittel bei einer anderen Apotheke im Notdienst zu beschaffen. Nach dem Vorbringen des Beschuldigten, das von der Einleitungsbehörde nicht bestritten wird, befinden sich in Berlin regelmäßig 30 Apotheken im Notdienst.

 

Bezogen auf die Berufspflichten im Notdienst ist die spezielle Regelung in § 9 Satz 2 BO einschlägig. Dort ist geregelt, dass die notdienstbereite Apotheke dann, wenn sie die Versorgung mit dem erforderlichen Arzneimittel nicht unmittelbar vornehmen kann, – soweit zumutbar – Hilfestellung bei der Beschaffung des Arzneimittels bei einer anderen Notdienstapotheke leisten soll. Ausgehend von dieser Bestimmung der Berufsordnung war der Beschuldigte allein zu einer zumutbaren Hilfestellung verpflichtet, weil er das nachgefragte Präparat nicht vorrätig hatte. Insoweit hat er in der mündlichen Verhandlung erläutert, dass er in solchen Fällen seine Kunden darüber informiere, in welcher Apotheke sie das erwünschte Arzneimittel erwerben könnten.

 

Nach der Begründung der Anschuldigungsschrift hält die Einleitungsbehörde dem Beschuldigten nicht allein die unterlassene Abgabe, sondern auch die Verletzung der Pflicht zur vorbehaltslosen Bereithaltung aller in Deutschland zugelassenen Arzneimittel vor, die aus § 17 Abs. 4 ApBetrO folge. Allerdings folgt schon aus dem Wortlaut dieser Regelung keine Pflicht zur Vorratshaltung und erst recht nicht bezogen auf nicht verschreibungspflichtige Mittel. Nach § 17 Abs. 4 ApBetrO sind Verschreibungen von Personen, die zur Ausübung der Heilkunde, Zahnheilkunde oder Tierheilkunde berechtigt sind, in einer der Verschreibung angemessenen Zeit auszuführen. Bei Frau S. lag schon keine Verschreibung vor. Wenn der Beschuldigte durch § 17 Abs. 4 ApBetrO nicht zur Vorratshaltung verpflichtet war, kann ihm auch nicht vorgeworfen werden, dass er objektiv nicht in der Lage war, das erbetene Mittel abzugeben. Die Pflicht zur Vorratshaltung ist in § 15 Abs. 1 S. 1 ApBetrO geregelt. Danach hat der Apothekenleiter die Arzneimittel und apothekenpflichtigen Medizinprodukte, die zur Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung der Bevölkerung notwendig sind, in einer Menge vorrätig zu halten, die mindestens dem durchschnittlichen Bedarf für eine Woche entspricht. Zu diesen Voraussetzungen verhält sich die Anschuldigungsschrift nicht.

 

Der Grundsatz des § 1 ApoG, wonach den Apotheken die im öffentlichen Interesse gebotene Arzneimittelversorgung obliegt, ist nicht lediglich eine rechtlich unverbindliche Deklaration, sondern statuiert Rechte und Pflichten für jede Apotheke als Trägerin der Arzneimittelversorgung sowie für den Apothekenleiter und das pharmazeutische Personal. § 17 Abs. 4 ApBetrO normiert eine Pflicht, Verschreibungen auszuführen. Ärztliche, zahnärztliche und tierärztliche Verschreibungen unterliegen diesem prinzipiellen Kontrahierungszwang. Der Kontrahierungszwang füllt damit gleichsam den letzten Schritt aus, der zur Erfüllung des Sicherstellungsauftrags der Apotheken nach § 1 ApoG erforderlich ist. Er verpflichtet als Ausnahme vom Normfall der zivilrechtlichen Vertragsfreiheit dazu, einen Vertrag über die Belieferung einer (gültigen) Verschreibung abzuschließen. Der Kontrahierungszwang nach § 17 Abs. 4 bedeutet folglich nicht, dass die Apotheke einer grundsätzlichen Abgabeverpflichtung unterliegt, da dies den Charakter eines gesetzlich geregelten Kontrahierungsgebots verkennen würde (Pfeil/Pieck/Blume, ApBetrO, Kommentar, Stand: 2017, § 17 Rn. 337).

 

Zivilrechtlich wird aufgrund des Kontrahierungszwangs ein gesetzliches Schuldverhältnis geschaffen, das die Verpflichtung zur Abgabe einer auf einen Vertragsschluss gerichteten Willenserklärung durch die Apotheke begründet und dessen Verletzung Schadensersatzpflichten (§§ 276, 278 BGB) auslösen kann. Im Rahmen dieses gesetzlichen Schuldverhältnisses wird der Apotheker auch im Lichte des § 1 ApoG in der Regel gezwungen sein, eine entsprechende Belieferung der Verschreibung, also in der Regel eine Arzneimittelabgabe, zu leisten. Dies gilt allerdings nur, sofern nicht ein Vertragsschluss aus berechtigten Gründen verweigert wird (Pfeil/Pieck/Blume, ApBetrO, Kommentar, Stand: 2017, § 17 Rn. 337; im Ergebnis so wohl auch Cyran/Rotta, ApBetrO, Stand Januar 2017, § 17 Rn. 685; a.A. Auerbach/Wisniewska, Pharm. Ztg. 2013, S. 3104: „vorbehaltslose Bereithaltungs- und Abgabepflicht bezüglich aller in Deutschland zugelassener Arzneimittel“).

 

Pharmazeutische Gründe im Rahmen der Selbstmedikation könnten dem Kontrahierungszwang entgegenstehen (Pfeil/Pieck/Blume, ApBetrO, Kommentar, Stand: 2017, § 17 Rn. 340a). Umstritten ist, ob die fehlende Zahlungsbereitschaft eines Kunden eine Ausnahme begründen kann (dagegen: Cyran/Rotta, ApBetrO, Stand Januar 2017, § 17 Rn. 685, Begründung: „bei richtiger Auffassung“; dafür: Pfeil/Pieck/Blume, ApBetrO, Kommentar, Stand: 2017, § 17 Rn. 340d).

 

Auch die Frage, ob Gewissensgründe zur Durchbrechung der Kontrahierungspflicht führen können, ist umstritten. Die oben genannten Kommentare folgen wohl der Auflassung des Bundesministeriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit in der Stellungnahme vom 30. Dezember 1986 (ausdrücklich Pfeil/Pieck/Blume, ApBetrO, Kommentar, Stand: 2017, § 17 Rn. 342; wohl auch Cyran/Rotta, ApBetrO, Stand Januar 2017, § 17 Rn. 691). Danach ist „das Recht der Apotheker, sich bei der Abgabe bzw. einer Verweigerung von nidationshemmenden Mitteln auf eine freie Gewissensentscheidung gemäß Artikel 4 Abs. 1 des Grundgesetzes zu berufen, zu respektieren und zu schützen“, mit der Folge, „dass ein Apotheker, der die Abgabe von Nidationshemmern aus religiös motivierten Gewissensgründen verweigert, grundsätzlich keine Diskriminierung oder Benachteiligung erfahren darf“.

 

Dem hält der Geschäftsführer der Einleitungsbehörde als Mitautor des oben genannten Artikels entgegen, das Ministerium verkenne die persönliche Bindung des Apothekers an den Versorgungsauftrag. Dieser sichere die Funktionsfähigkeit des Systems der Arzneimittelversorgung. Könnten die Berufsangehörigen nach ihren eigenen Wertmaßstäben entscheiden, ob und in welchem Umfang sie den Versorgungsauftrag erfüllen, wäre die Versorgungssicherheit nicht mehr gewährleistet. Auch das von dem Ministerium aufgestellte Abgrenzungskriterium des Anlasses der Verordnung sei untauglich, denn der Apotheker kenne den Grund der Verordnung nicht, und der Patient sei nicht verpflichtet, sich gegenüber dem Apotheker zu offenbaren und zu rechtfertigen, um das verordnete Arzneimittel zu erhalten (Auerbach/Wisniewska, Pharm. Ztg. 2013, S. 3104 f.).

 

Er meint, der umfassende Versorgungsauftrag stelle keinen ungerechtfertigten Eingriff in das Grundrecht der Gewissensfreiheit dar. Die dem Apotheker vom Staat auferlegten besonderen Pflichten, insbesondere der öffentliche Auftrag der ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung, gestalteten den Status des Apothekers ähnlich dem Sonderstatus von Beamten. Die Berufung auf das Gewissen habe generell nicht die Kraft, von der Befolgung auferlegter Verpflichtungen zu entbinden. Gewisse Grundrechtseinschränkungen müssten daher im Interesse der Erfüllung staatlicher Aufgaben hingenommen werden. Wie bei Sonderrechtsverhältnissen müsse auch hier die Vermeidbarkeit des Gewissenskonflikts zu Lasten des Apothekers berücksichtigt werden. Der angehende Apotheker müsse sich bereits bei seiner Berufswahlentscheidung über die beruflichen Pflichten informieren. Spätestens jedoch während der Ausbildung lerne er diese konkret kennen. Er habe somit die Möglichkeit, den für ihn erkennbaren unumgänglichen Gewissenskonflikt bereits im Vorfeld zu vermeiden. Er könne ein Berufsfeld wählen, in dem der Gewissenskonflikt nicht entstehen wird. Anderenfalls berühre der Gewissenskonflikt die Eignung des Apothekers zur Tätigkeit in einer öffentlichen Apotheke (Auerbach/Wisniewska, Pharm. Ztg. 2013, S. 3104 f.).

 

Diese Auffassung überzeugt insbesondere dann nicht, wenn die Rechtsprechung zu der herangezogenen Vergleichsgruppe berücksichtigt wird. Selbst Sanitätsoffizieren auf Zeit, die nach längerer Dienstzeit einen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer stellen, wird dieses Recht nicht abgesprochen (BVerwG, Beschluss vom 29. Juni 2017 – 6 B 63/16 – juris Rn. 5 m.w.N.). Auch der Apotheker als Grundrechtsträger darf sich darauf berufen, eine ernsthafte Gewissensentscheidung erst im Laufe seines Berufslebens zu entwickeln. Eine Lösung kann sich verfassungskonform nur durch eine Abwägung der betroffenen Grundrechte im Einzelfall ergeben (Pfeil/Pieck/Blume, ApBetrO, Kommentar, Stand: 2017, § 17 Rn. 340d). Damit vergleichbar ist die Situation, dass sich nicht die Überzeugungen des Apothekers gewandelt haben, aber neuartige Arzneimittel zugelassen werden, die ihn in einen Gewissenskonflikt bringen.

 

Die Abwägung im Einzelfall geht in den beiden Vorfällen, die Gegenstand des berufsgerichtlichen Verfahrens, sind zugunsten des Beschuldigten aus. Frau T. gibt an, dass sie dem Beschuldigten am 14. Oktober 2014 eine ärztliche Verschreibung des Medikaments „EllaOne“ vorgelegt habe. Der Beschuldigte hatte nach seinen Überzeugungen das Präparat nicht vorrätig. Es geht daher nicht darum, dass er die Herausgabe verweigert hat, sondern dass er es ihr nicht beschaffen wollte. Im Hinblick auf die von ihm angeführten Gewissensgründe (Art. 4 Abs. 1 GG) und den Umstand, dass es sich erkennbar um eine bewusste Provokation durch die Kundin handelte, die sich bereits mit Schreiben vom 30. April 2014 bei der Apothekerkammer über den Beschuldigten beschwert hatte, kann ihm nicht vorgeworfen werden, dass er das Präparat nicht sogleich um 18:30 Uhr herausgegeben hat. Wenn es der Patientin wirklich darum gegangen wäre, das Präparat schnell einzunehmen, um eine Schwangerschaft zu verhindern, hätte sie im Grunde genommen jede andere der rund 800 Apotheken im Berlin aufsuchen können. Ihre Ausführungen, der Apotheker mute Patientinnen zu, dass die Wahrscheinlichkeit einer ungewollten Schwangerschaft steige, erscheint bezogen auf ihre konkrete Situation unaufrichtig. Dies gilt auch, soweit sie ausführt, dass sein Verhalten insbesondere in den Abendstunden kurz vor Ladenschluss oder an den Wochenenden und im Apothekennotdienst absolut unzumutbar sei. Es spricht alles dafür, dass sie bewusst erst kurz vor Ladenschluss bei dem Beschuldigten erschienen ist. Auch wenn sie dem Beschuldigten eine ärztliche Verschreibung vorlegen konnte, erscheint es zweifelhaft, dass sie sich tatsächlich in einer Notlage befand. Denn dann hätte es nahegelegen, das Präparat in einer Apotheke zu erwerben, wo sie damit rechnen konnte, es auch tatsächlich zu erhalten. Bei der Patientin S. lag schon keine Verschreibung vor und die Besonderheiten im Notdienst stehen der Annahme eines Berufsvergehens entgegen.

 

Die Überlegung der Einleitungsbehörde, es könne nicht auf die Einzelheiten der beiden Fälle ankommen, weil der Beschuldigte sich grundsätzlich berufspflichtwidrig verhalten habe, und sich dies in den beiden Fällen lediglich manifestiert habe, überzeugt nicht. Wie bereits ausgeführt, muss die Anschuldigungsschrift den Gegenstand des als eine Berufspflichtverletzung vorgeworfenen Verhaltens eindeutig benennen und die Grenzen des dazu unterbreiteten Tatsachenstoffs genau umreißen. Der Anschuldigungsschrift lassen sich hier die beiden konkreten Fälle entnehmen. Das Berufsgericht kann nicht darüber hinausgehen und dem Beschuldigten ein Verhalten als Berufspflichtverletzung zur Last legen, das nicht hinreichend konkret Gegenstand der Anschuldigungsschrift ist. Darüber hinaus steht einer verallgemeinernden Herangehensweise gerade die jeweils gebotene Güterabwägung im Einzelfall entgegen, die hier zugunsten des Beschuldigten ausgeht.

 

4. Als Sanktion für das unter II.1. festgestellte Berufsvergehen des Beschuldigten ist eine Warnung angemessen. Grundsätzlich kommen nach § 17 Abs. 1 KammerG in abgestufter Form und teilweise gemäß § 17 Abs. 2 KammerG auch kumulativ eine Warnung (1.), ein Verweis (2.), eine Geldbuße bis zu 50.000,- Euro (3.), die Entziehung des aktiven und passiven Kammerwahlrechts (4.) und die Feststellung, dass der Beschuldigte unwürdig ist, seinen Beruf auszuüben (5.), als Sanktionen in Frage.

 

Hier ist mit Blick auf den einmaligen Vorgang, die seit September 2013 verstrichene Zeit, die Einsicht des Beschuldigten, seine unterdurchschnittlichen wirtschaftlichen Verhältnisse und den Umstand, dass der Beschuldigte die zuletzt betriebene Apotheke aufgegeben hat, nicht mehr als eine Warnung zu verhängen.

 

Die Kostenentscheidung [Anm. der Redaktion: Die Kosten des Verfahrens tragen die Einleitungsbehörde zu 3/4und der Beschuldigte zu 1/4] beruht auf § 24 Berliner Kammergesetz i.V.m. §§ 3, 41 DiszG, § 77 Abs. 1 BDG i.V.m. § 155 Abs. 1 VwGO. Wenn ein Beteiligter teils obsiegt, teils unterliegt, so sind die Kosten gegeneinander aufzuheben oder verhältnismäßig zu teilen Zwar könnte ein Unterliegen im Sinne des § 154 Abs. 1 VwGO angenommen werden, weil gegen den Beschuldigten eine Sanktion verhängt wird. Insoweit wird die Ansicht vertreten, wegen des Grundsatzes der Einheit des Berufsvergehens komme in diesem Fall eine Kostenteilung nicht in Betracht (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. Januar 2019 – OVG 90 H 3.18 – juris Rn. 54 und Urteil vom 9. Dezember 2008 – OVG 90 H 4.07 – juris Rn. 31:). Jedenfalls für den Fall, dass der Beschuldigte von den Anschuldigungen weitgehend freizustellen ist und nur wegen eines relativ geringfügigen Berufsvergehens verurteilt wird, folgt das Berufsgericht für Heilberufe Berlin dieser Auffassung nicht. Sie widerspricht der gesetzlichen Regelung in § 155 Abs. 1 VwGO und führte jedenfalls in Fällen, in denen sich die Anschuldigungen weitgehend als unbegründet erweisen, zu unbilligen Ergebnissen (vgl. zum Disziplinarrecht: BVerwG, Urteil vom 27. Januar 2011 – 2 A 5/09 – juris Rn. 46). Die weiteren Nebenentscheidungen folgen aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 Satz 1 und 2 i.V.m. § 709 Satz 2 ZPO.