Melatoninkapseln als Funktionsarzneimittel

Entscheidungen in Leitsätzen

UWG § 3, § 3a; AMG § 2 Abs. 1 Nr. 2a, § 21 AMG

Leitsätze des Gerichts:

1. Die restriktive Auslegung von § 2 Abs. 1 Nr. 2 a) AMG im Hinblick auf die Abgrenzung zwischen Funktionsarzneimittel und Lebensmittel gilt unabhängig davon, wie die Auswirkungen auf den Stoffwechsel des menschlichen Körpers beschaffen sind. Weder der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs noch der des Bundesgerichtshofs lässt sich entnehmen, dass dem Merkmal der „nennenswerten Auswirkungen“ ein wertendes Element hinsichtlich der Art der Auswirkungen immanent ist. Es geht vielmehr darum, Stubstanzen von der Zulassungspflicht auszunehmen, die auch über die normale Nahrung in entsprechender Dosis aufgenommen werden.

 

2. „Schneller-Einschlafen-Kapseln“ mit 0,5 mg Melatonin pro Kapsel und einer Einnahmeempfehlung von ein bis zwei Kapseln täglich wirken sich nicht nennenswert auf den Stoffwechsel im Körper aus und entfalten daher nicht die Wirkung eines Funktionsarzneimittels.

 

 

Gründe

 

I.

 

Der Kläger macht einen lauterkeitsrechtlichen Unterlassungsanspruch bezüglich des Inverkehrbringens von Produkten mit einem Zusatz von Melatonin und einer empfohlenen Tagesverzehrmenge von 0,5 mg Melatonin geltend, wenn diese nicht als Arzneimittel zugelassen sind.

 

Der Kläger ist ein eingetragener Verein, dessen Zweck in der Durchsetzung lautere Heilmittelwerbung besteht. Zu seinen Mitgliedern zählen Vertreter und Unternehmen der pharmazeutischen Industrie.

 

Die Beklagte vertreibt unter der Bezeichnung „A“ Nahrungsergänzungsmittel und diätetische Lebensmittel. Zu ihrem Sortiment gehört auch das als Nahrungsergänzungsmittel in den Verkehr gebrachte Produkt „Schneller-Einschlafen-Kapseln“. Das Produkt enthält – neben Zitronenmelisse – pro Kapsel 0,5 mg Melatonin. Zur Verkürzung der Einschlafzeit empfiehlt die Beklagte die Einnahme von zwei, im Falle eines Jetlags vom 1. bis 5. Tag nach der Ankunft in einer anderen Zeitzone von ein bis zwei Kapseln täglich. Der bestimmungsgemäße Gebrauch des Produkts der Beklagten führt demnach zu einer Aufnahme von 0,5 mg bis 1 mg Melatonin pro Tag.

 

Der Kläger mahnte die Beklagte im Mai 2014 ab, da er die Verkehrsfähigkeit des Produkts als Lebensmittel beziehungsweise Nahrungsergänzungsmittel aufgrund dessen pharmakologischer Wirkung als nicht gegeben ansieht.

 

Das Landgericht, auf dessen Urteil wegen seiner tatsächlichen Feststellungen Bezug genommen wird (§ 540 Abs. 1 S. 1 ZPO), hat die Beklagte unter Androhung der gesetzlichen Ordnungsmittel verurteilt, es zu unterlassen, Produkte mit einem Zusatz von Melatonin und einer empfohlenen Tagesverzehrmenge von 0,5 mg Melatonin oder mehr als Lebensmittel in den Verkehr zu bringen. Zur Begründung hat es ausgeführt, solche Produkte seien als Funktionsarzneimittel einzustufen.

 

Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der sie ihren erstinstanzlichen Antrag weiterverfolgt.

 

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

 

das erstinstanzliche Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.

 

Der Kläger beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Der Senat hat Beweis erhoben gemäß Beweisbeschluss vom 25.2.2016 (Bl. 942 d.A.), ergänzt unter dem 13.1.2020 (Bl. 1409 d.A.). Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten des Sachverständigen C vom 13.3.2020 verwiesen.

 

Der Kläger hat beantragt, das Gutachten wegen inhaltlicher und fachlicher Mängel nicht zu verwerten.

 

II.

 

Die zulässige Berufung hat auch in der Sache Erfolg.

 

Dem Kläger steht gegen die Beklagte kein Anspruch auf Unterlassung gemäß §§ 8 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 2, 3, 3a (4 Nr. 11 a.F.) UWG i.V.m. § 21 AMG zu, da er nicht nachweisen konnte, dass es sich bei den Produkten der angegriffenen Art um Funktionsarzneimittel im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 2 a) AMG handelt.

 

A) Funktionsarzneimittel im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 2 a) AMG sind unter anderem anzunehmen, wenn es sich bei den streitgegenständlichen Produkten um Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen handelt, die im oder am menschlichen Körper angewendet werden können, um die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen.

 

1. Der Begriff des Funktionsarzneimittels ist dabei im Sinne des europäischen Arzneimittelbegriffs zu bestimmen. Die Beurteilung hat unter Berücksichtigung aller Merkmale zu erfolgen, insbesondere der Zusammensetzung, der pharmakologischen, immunologischen und der metabolischen Eigenschaften, wie sie sich beim Stand der Wissenschaft feststellen lassen, der Modalitäten seines Gebrauchs, den Umfang seiner Verbreitung, seiner Bekanntheit bei den Verbrauchern sowie der Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann (BGH GRUR 2010, 259, 260 Rn 14 – Zimtkapseln; EuGH GRUR 2008, 271, 272, Rn 55 – Knoblauch-Extrakt-Pulver-Kapsel).

 

Die pharmakologischen Eigenschaften eines Erzeugnisses sind dabei der Faktor, auf dessen Grundlage – ausgehend von den Wirkungsmöglichkeiten des Erzeugnisses – zu beurteilen ist, ob dieses im oder am menschlichen Körper zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen angewandt werden kann (BGH a.a.O. – Zimtkapseln).

 

Stoffe, die zwar auf den menschlichen Körper einwirken, sich aber nicht nennenswert auf den menschlichen Stoffwechsel auswirken und somit dessen Funktionsbedingungen nicht wirklich beeinflussen, dürfen dabei nicht als Funktionsarzneimittel eingestuft werden. Der Begriff des Funktionsarzneimittels soll nur diejenigen Erzeugnisse erfassen, deren pharmakologische Eigenschaften wissenschaftlich festgestellt und die tatsächlich dazu bestimmt sind, eine ärztliche Diagnose zu erstellen oder physiologische Funktionen wiederherzustellen, zu bessern oder zu beeinflussen (BGH GRUR 2010, 259, 260, Rn 15 – Zimtkapseln; EuGH GRUR 2008, 271, 272, Rn 61 – Knoblauch-Extrakt-Pulver-Kapsel). Enthält ein Produkt im Wesentlichen einen Stoff, der auch in einem Lebensmittel in dessen natürlichem Zustand vorhanden ist, so gehen von ihm keine nennenswerten Auswirkungen auf den Stoffwechsel aus, wenn bei einem normalen Gebrauch des fraglichen Zeugnisses seine Auswirkungen auf die physiologischen Funktionen nicht über die Wirkung hinausgehen, die ein in angemessener Menge verziertes Lebensmittel auf diese Funktionen haben kann (BGH a.a.O. – Zimtkapseln).

 

Dem Kläger ist nicht in seiner Argumentation zu folgen, dass es auf diese Abgrenzung vorliegend deshalb nicht ankommen könne, weil es – anders als bei Knoblauch oder etwa Zimt – nicht um eine gesundheitsfördernde Wirkung gehe, sondern um einen Eingriff in den Wach-Schlaf-Rhythmus. Die restriktive Auslegung des § 2 Abs. 1 Nr. 2 a) AMG im Hinblick auf die Abgrenzung zwischen Funktionsarzneimittel und Lebensmittel gilt unabhängig davon, wie die Auswirkungen auf den Stoffwechsel beschaffen sind. Weder der Rechtsprechung des EuGH noch der des BGH lässt sich entnehmen, dass dem Merkmal der „nennenswerten Auswirkungen“ ein wertendes Element hinsichtlich der Art der Auswirkung immanent ist. Es geht vielmehr darum, Substanzen von der Zulassungspflicht zu entbinden, die auch über die normale Nahrung in entsprechender Dosis aufgenommen werden können.

 

2. Die Beweislast für das Vorliegen eines Arzneimittels als anspruchsbegründende Tatsache liegt bei dem Kläger (BGH GRUR 2008, 830, 832, Rn 13, 25 – L-Carnitin II).

 

Dies umfasst insbesondere den Nachweis einer pharmakologischen Wirkung des streitgegenständlichen Produkts, da diese den wesentlichen Faktor für die Einordnung als Funktionsarzneimittel darstellt. Eine pharmakologische Wirkung ist nur anzunehmen, wenn das betreffende Produkt mehr als ernährungsphysiologische Wirkungen erzielt (BGH GRUR 2008, 830, 832, Rn 21 – L-Carnitin II). Somit obliegt dem Kläger sowohl der Nachweis, dass einem Produkt grundsätzlich eine pharmakologische Wirkung zukommt, als auch, dass diese über das hinausgeht, was durch die Aufnahme einer angemessenen Menge an Lebensmitteln erzielt werden kann.

 

Der Kläger ist diesbezüglich beweisfällig geblieben, da er eine pharmakologische Wirkung des streitgegenständlichen Produkts nicht nachweisen konnte. Insbesondere konnte er nicht nachweisen, dass die Wirkung des Produkts auf die physiologischen Funktionen über die Wirkung hinausgehen, die ein in angemessener Menge verzehrtes Lebensmittels auf diese Funktionen haben kann. Das heißt, er konnte nicht nachweisbar ausschließen, dass die entsprechende Wirkung nicht auch durch die Aufnahme von entsprechenden Lebensmitteln erreichbar ist.

 

Der gerichtlich bestellte Sachverständige C führt in seinem schriftlichen Gutachten vom 13.3.2020 aus, dass die Frage, ob die Aufnahme einer Menge von 0,5 mg Melatonin über die Nahrung erreicht werden könne, eindeutig mit Ja zu beantworten sei. Dabei sei eine Betrachtung von Melatonin enthaltenden Lebensmitteln nicht zielführend, weil ein großer Teil des Melatonins aus der über die Nahrung zugeführte essenziellen Aminosäure Tryptophan gebildet werde, vor allem im Darm und durch die Darmflora. Neben Tryptophan sorge auch Serotonin aus Pflanzen für die Zurverfügungstellung von Melatoninmengen, die über 0,5 mg hinausgingen. Die tägliche Aufnahme von Tryptophan sollte mindestens 4 mg/kg betragen, was bei einem Menschen von 50 kg Körpergewicht einer Menge von 200 mg pro Tag als Minimum entspreche. Wenn davon, wie in der Literatur beschrieben, 2 – 5 % in Melatonin verwandelt werden, beträgt allein aus dieser Quelle die Tageszufuhr von Melatonin aus der Nahrung 4 – 10 mg (S. 15).

 

Zwar weist der Kläger im Ausgangspunkt zutreffend darauf hin, dass Thema des Beweisbeschlusses die Frage war, ob mittels des Verzehrs einer angemessenen Menge eines Lebensmittels Melatonin dem Körper zugeführt werden könne, hingegen bezog sich der Beweisbeschluss nicht auf Tryptophan oder Serotonin. Wenn aber der Körper selbst aus Tryptophan und Serotonin Melatonin in erheblicher Menge produzieren kann, könnte das von der Beklagten vertriebene Produkt sich nur dann nennenswert auf den Stoffwechsel auswirken, wenn Melatonin, zumal in Kapselform zugeführt, eine andere Wirkung entfalten könnte, als aus Tryptophan oder Serotonin gebildetes Melatonin, und sei es auch nur in der Form, dass das in Kapselform zugeführte Melatonin zu einem erhöhten Melatoningehalt im Körper führen und seine Funktionsbedingungen beeinflussen könnte. Auch das hat der Sachverständige jedoch nicht bestätigt. Er hat ausgeführt, dass der Körper Melatonin in tiefen Kompartimenten einlagern und von dort auch wieder freisetzen können. Die Auswirkungen einer Exposition – ob über Nahrung, Supplementen oder Arzneimittel – auf die Verteilung von Melatonin im Organismus sei nach wie vor weitgehend unbekannt. Der größte Anteil des Melatoninpools im Organismus stamme aus der Nahrung, nämlich aus der Aminosäure Tryptophan. Aus dieser Aminosäure werde Melatonin in großen Mengen gebildet, nicht bekannt sei aber, wie die Verteilung von Melatonin im Organismus gesteuert werde. Entgegen der Auffassung des Klägers sind diese Ausführungen zur Bioverfügbarkeit nicht widersprüchlich. Sie lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass der Körper zwar anerkanntermaßen in der Lage ist, große Mengen an Melatonin zu bilden, unbekannt sind jedoch die Mechanismen des Einsatzes von Melatonin im und durch den Körper.

 

Davon ausgehend hat der Kläger nicht der Nachweis erbracht, dass sich das beanstandete Produkt nennenswert auf den Stoffwechsel im Körper auswirkt und somit dessen Funktionsbedingungen beeinflusst. Wenn der Körper selbst Melatonin in erheblichen Mengen aus Tryptophan oder aus Serotonin produzieren kann und überdies unklar ist, wie die Verteilung von Melatonin im Organismus gesteuert wird, kann es nicht als bewiesen angesehen werden, dass das von der Beklagten vertriebene Produkt im Körper die Wirkung eines Funktionsarzneimittels entfaltet.

 

Der Umstand, dass das Produkt „D“, das 2 mg Melatonin enthält, in der EU als Arzneimittel für Personen über 55 Jahre zugelassen ist, steht dieser Beurteilung im Ergebnis nicht entgegen. Zwar ist der Nachweis der Wirksamkeit zwingender Bestandteil einer Arzneimittelzulassung. Das spricht dafür, dass dieses Mittel zur Überzeugung der EMA eine Funktion als Arzneimittel erfüllt, allerdings bei einer Dosierung von 2 mg und nur in einer Altersgruppe von > 55 Jahren. Ein weiterer Unterschied zu dem hier angegriffenen Erzeugnis besteht darin, dass „D“ Melatonin in retardierter Form enthält.

 

Auch die weiteren Angriffe des Klägers, mit denen er die Unverwertbarkeit des Gutachtens begründen will, greifen nicht durch. Es ist nicht zu erkennen, dass der Gutachter versuchen würde, die Rolle von Melatonin im Körper zu verharmlosen, indem er es als Vitamin bzw. als vitaminähnlich bezeichnet. Eine Klassifizierung „gefährliches Hormon“ einerseits und „ungefährliches Vitamin“ andererseits gibt es nicht. Vitamine können ihre Wirkungsweise im Körper den Hormonen durchaus nahestehen. Im Übrigen kommt auch der Sachverständige E in seinem Gerichtsgutachten für das Landgericht Dortmund vom 29.9.2017 zu dem Ergebnis, dass die neuere Literatur Melatonin nicht mehr den Status als „ausschließlich Hormon“ zuschreibt (Seite 6 des Gutachtens).

 

Es begründet auch keinen Zweifel an der Kompetenz des Sachverständigen, dass er zu dem Ergebnis gelangt, relevante pharmakologische Effekte von Melatonin seien nicht belegt. Auch dieses Ergebnis wird von dem Sachverständigen E in seinem Gutachten vom 29.9.2017 (Seite 11) geteilt.

 

Zuzugeben ist, dass die Zitierweise den Grundsätzen wissenschaftlichen Arbeitens nicht entsprechen mag, weil eine Reihe der aufgeführten Publikationen alle aus einem Buch und mithin aus einer Quelle stammen, was mit der Zitierung nicht deutlich gemacht wird. Auch das rechtfertigt es aber nicht, an der sachlichen Richtigkeit des Gutachtens zu zweifeln; der Sachverständige hatte die Aufgabe, ein Gerichtsgutachten zu fertigen, nicht aber eine wissenschaftliche Publikation.

 

Richtig ist weiterhin, dass der Sachverständige bei der Frage, ob eine Melatoninzufuhr von 0,5 – 1 mg direkt über den Verzehr von Lebensmitteln möglich ist, auf die Rezepte verwiesen hat, die die Beklagtenseite vorgelegt hat. Dies begründet aber ebenfalls keine Zweifel an seinen Feststellungen. Für den Sachverständigen war diese Frage erkennbar von untergeordneter Bedeutung, da er auf die Fähigkeit des Körpers abstellt, selbst Melatonin zu produzieren. Im Übrigen hat der Sachverständige an anderer Stelle des Gutachtens ausgeführt, dass es praktisch nicht möglich sei, über Lebensmittel gezielt eine bestimmte Menge Melatonin zuzuführen, da die jeweils nachweisbare Menge an Melatonin in Lebensmitteln aufgrund einer Vielzahl von Einflussfaktoren (bspw. Bodenbeschaffenheit, Reifestadium) extrem variabel ist.

 

Das Gutachten ist auch nicht deshalb unbrauchbar, weil es sich nicht mit den Einwendungen BVL (Anlagen K38, K43) auseinandergesetzt hat.

 

Das BVL kommt lediglich zu dem Ergebnis, dass keine Studie vorliegt, nach der davon auszugehen sei, dass die Menge an Melatonin auch durch den Verzehr eines Lebensmittels in angemessener Menge erzielt werden könne. Das steht den Ausführungen im Gutachten nicht entgegen. Wie bereits ausgeführt, erachtet der Sachverständige diesen Aspekt wegen der Fähigkeit des Körpers, selbst Melatonin in erheblicher Menge aus einer essenziellen Aminosäure (Tryptophan) zu produzieren, für nicht zielführend.

 

C) Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711, 709 S. 2 ZPO.