Finanzgericht Hamburg, Urteil vom 26. Januar 2023, Az.: 4 K 139/21

Herstellung von Desinfektionsmitteln durch eine Apotheke während der Corona-Pandemie

AlkStG § 27 Abs. 1 Nr. 1, AO § 163 Abs. 1 Satz 1, § 5; EWGRL 83/92 Art. 27; ApBetrO § 15 Abs. 1 Satz 1

Leitsätze des Gerichts:

1. Einer Apothekerin, die im März und April 2020 vor dem Hintergrund pandemiebedingter Versorgungsengpässe entschieden hat, das Gesundheitswesen und die Bevölkerung mit in ihrer Apotheke selbst hergestellten Desinfektionsmitteln zu versorgen, und die zu diesem Zweck – weil trotz zahlreicher Anfragen bei Alkoholsteuerlagern unversteuertes Ethanol oder Isopropylalkohol nicht zu erwerben war – versteuerten reinen Alkohol zur Herstellung von Desinfektionsmitteln erworben hat, kann auf Antrag die Branntweinsteuer bzw. Alkoholsteuer nach § 163 Abs. 1 Satz 1 AO zu vergüten sein (hier: Anspruch auf die begehrte Steuervergütung wegen Ermessensreduktion auf Null).

 

2. Es ist nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber der Apotheke (deren Herstellungshandlungen die Voraussetzungen einer Steuerbefreiung nach dem Alkoholsteuergesetz erfüllen) in einer Pandemielage die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung unter Verletzung des Effektivitätsgrundsatzes verweigern wollte.(Rn.47)

 

3. Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt (Az. des BFH: VII B 25/23)

 

Tatbestand

 

1 Die Klägerin begehrt eine Alkoholsteuervergütung.

 

2 Die Klägerin ist Inhaberin und Betreiberin einer Apotheke.

 

3 Zu Beginn der Coronapandemie im März 2020 bestanden Versorgungsengpässe mit Desinfektionsmitteln und Grundstoffen von Desinfektionsmitteln wie Isopropylalkohol. Laut Destatis war der Absatz von Desinfektionsmitteln zu Beginn der Pandemie ca. verachtfacht, und der weltweite Umsatz mit Desinfektionsmitteln versechsfachte sich vom Jahr 2019 auf das Jahr 2020. Die Onlinehändler ebay und Amazon ließen im Frühjahr 2020 auf ihren Plattformen angesichts von Preiswucher keinen Handel mit Desinfektionsmitteln mehr zu. Die Vergällungsbetriebe mit Sitz in der Bundesrepublik Deutschland konnten die Nachfrage nach vergälltem Alkohol nicht mehr bedienen, der für die alkoholsteuerfreie Herstellung unter anderem von Desinfektionsmitteln benötigt wird. Krankenhäuser und andere Einrichtungen des Gesundheitswesens wie Arztpraxen und Pflegeeinrichtungen waren in erheblichem Umfang nicht mehr in der Lage, die zur grundlegenden Versorgung benötigten Desinfektionsmittel zu beschaffen.

 

4 Vor diesem Hintergrund erlaubte das Bundesministerium der Finanzen mit Erlass vom 17. März 2020 den Apotheken, die nach dem Arzneimittelrecht befugt sind, Arzneimittel herzustellen, gemäß § 28 i. V. m. § 27 Abs. 1 Nr. 1 des Alkoholsteuergesetzes (AlkStG) ab sofort unvergällten Alkohol zur Herstellung von Desinfektionsmitteln steuerfrei zu verwenden. Zum Nachweis der Bezugsberechtigung gegenüber dem abgebenden Steuerlager genügte die Vorlage der Betriebserlaubnis der Apotheke nach dem Apothekengesetz. Diese ersetzte die förmliche Erlaubnis nach § 28 Abs. 1 AlkStG und ermöglichte das Verfahren der steuerfreien Verwendung gemäß § 59 Abs. 3 der Alkoholsteuerverordnung (AlkStV).

 

5 Die Klägerin beschloss vor dem Hintergrund der genannten Versorgungsengpässe, das Gesundheitswesen und die Bevölkerung mit in ihrer Apotheke selbst hergestellten Desinfektionsmitteln zu versorgen. Von März bis Mai 2020 gelang es ihr trotz zahlreicher telefonischer und E-Mail-Anfragen bei Alkoholsteuerlägern nicht, unversteuertes Ethanol oder Isopropylalkohol zu erwerben. Erfolglose Anfragen richtete sie neben ihren drei Hauptlieferanten A GmbH, B GmbH und Firma C auch an die D GmbH, E AG, F GmbH sowie G GmbH. Die Steuerläger lehnten entweder eine Belieferung ganz ab oder stellten unzulängliche Liefertermine in Aussicht, beispielsweise binnen fünf bis sechs Wochen bei Abnahme von 10.000 Litern. Die von der Klägerin hergestellten Desinfektionsmittelmengen waren jedoch stets innerhalb weniger Stunden ausverkauft.

 

6 Deshalb kaufte sie im Zeitraum vom 25. März bis 9. April 2020 versteuerten reinen Alkohol (96 % Weizenfeindestillat) von der Firma H zur Herstellung von Desinfektionsmitteln, insgesamt … Liter. Im Kaufpreis von insgesamt … € war Alkoholsteuer von insgesamt … € (Regelsteuersatz in Höhe von 13,03 €/Liter Alkohol) enthalten. Sie verarbeitete den Alkohol zu Desinfektionsmitteln mit unterschiedlichen Einsatzzwecken, indem sie stets die Qualität prüfte und Wasserstoffperoxid sowie für auf die Haut aufzutragende Desinfektionsmittel Glycerin hinzufügte, wodurch die Desinfektionsmittel für Trinkzwecke ungenießbar wurden. Solange sie noch über Vergällungsmittel verfügte, vergällte sie die Desinfektionsmittel zusätzlich. Die Desinfektionsmittel verkaufte sie zu Literpreisen von … €, ohne die Alkoholsteuer auf ihre Kunden abzuwälzen, zu denen neben Arztpraxen und Pflegeeinrichtungen auch allgemeine Apothekenkunden zählten. Daneben stellte sie in ihrem Geschäft geringere Mengen zur Händedesinfektion für ihre Kundschaft zur Verfügung.

 

7 Sie beantragte mit Schreiben vom 17. September 2020 beim Beklagten „den Erlass und die Erstattung von Branntwein- bzw. Alkoholsteuer in Höhe von … €“. Unversteuerter Alkohol als Grundstoff für Desinfektionsmittel sei nicht lieferbar gewesen.

 

8 Mit Bescheid vom 22. September 2020 (XXX) lehnte der Beklagte den Antrag ab. Den Einspruch vom 9. Oktober 2020 wies der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 3. November 2021 (RL VSt xxx/2020) zurück.

 

9 Die Klägerin hat am 2. Dezember 2021 Klage erhoben, die sie wie folgt begründet:

 

10 Die Versagung der Steuervergütung sei unverhältnismäßig und unbillig.

 

11 Da sie im Streitzeitraum keinen unversteuerten Alkohol habe beziehen können, sei ihr keine andere Möglichkeit geblieben, als versteuerten Alkohol von der Spirituosenhandlung zu beziehen, um den ihr obliegenden Versorgungsauftrag gegenüber der Bevölkerung sicherzustellen.

 

12 Sie sei im öffentlichen Interesse zur Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung der Bevölkerung – auch mit Desinfektionsmitteln – zur Vorratshaltung verpflichtet gewesen gemäß dem Gesetz über das Apothekenwesen (Apothekengesetz, ApoG) i.V.m. der Verordnung über den Betrieb von Apotheken (Apothekenbetriebsordnung, ApBetrO), insbesondere § 15 ApBetrO. Zudem sei sie aufgrund des SARS-CoV-2-Arbeitschutzstandards und aufgrund von § 4 des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) gezwungen gewesen, ihre Mitarbeiter und die Kunden der Apotheke zu schützen. Ihr würden einerseits Pflichten auferlegt, die zumindest zeitweise nur mit dem Bezug von versteuertem Alkohol erfüllbar gewesen seien. Andererseits würden die pandemiebedingten Engpässe beim Bezug unversteuerten Alkohols alkoholsteuerrechtlich ausschließlich ihr, der Klägerin, übergebürdet. Dies führe zu einer Benachteiligung und einer Ungleichbehandlung gegenüber denjenigen Apotheken, welche das praktische Glück gehabt hätten, zufällig noch ausreichend unversteuerten Alkohol vor oder nach den Versorgungsengpässen zu erhalten. Dies führe zu einer unbilligen Härte, die es zu vermeiden gelte.

 

13 Die Klägerin beantragt sinngemäß,

 

den Beklagten zu verpflichten, ihr unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 22. September 2020 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 21. November 2021 (RL VSt xxx/2020) Alkoholsteuer in Höhe von … € zu vergüten.

 

14 Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

 

15 Er begründet dies unter Bezugnahme auf die Rechtsbehelfsakte und die Einspruchsentscheidung im Wesentlichen wie folgt:

 

16 Die von der Klägerin hergestellten Desinfektionsmittel seien nicht Arzneimittel, sondern Biozide im Sinne der Verordnung (EU) Nr. 528/2012 über die Bereitstellung auf dem Markt und die Verwendung von Biozidprodukten (VO (EU) Nr. 528/2012; ABl. L 167, 1).

 

17 Eine Rechtsgrundlage für eine Alkoholsteuervergütung gebe es de lege lata nicht. Für die Verwendung von Alkohol zur Herstellung von Desinfektionsmitteln sehe der Gesetzgeber ausschließlich die steuerfreie Verwendung von unter Steueraussetzung bezogenem Alkohol vor. Die bestehenden Entlastungstatbestände (Wiedereinlagerung von versteuertem Alkohol in ein Steuerlager) seien nicht sinngemäß anwendbar. Im Jahr 2020 angestellte Überlegungen zur Schaffung einer entsprechenden Rechtsgrundlage hätten nicht zu einer Gesetzgebungsinitiative geführt.

 

18 Nach Art. 27 Abs. 6 der Richtlinie 92/83/EWG zur Harmonisierung der Struktur der Verbrauchsteuern auf Alkohol und alkoholische Getränke (RL 92/83/EWG, ABl. L 316, 21) stehe es den Mitgliedstaaten frei, ob sie die in der Richtlinie vorgesehenen Steuerbefreiungen im Wege der Verwendung unversteuerter Erzeugnisse oder im Wege einer Verbrauchsteuerrückerstattung regeln.

 

19 Eine Billigkeitsmaßnahme würde die dem gesetzlichen Steuertatbestand innewohnende Wertung des Gesetzgebers durchbrechen. Der gesetzliche Tatbestand bringe für typische Fälle die mangelnde Entlastungsfähigkeit mit sich. Eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Rechtsfolge, die der Gesetzgeber bewusst angeordnet oder in Kauf genommen habe, rechtfertige regelmäßig keine Billigkeitsmaßnahme.

 

20 Die Klägerin habe angesichts der allgemeinen Erlaubnis nach BMF-Erlass vom 17. März 2020 die rechtliche Möglichkeit gehabt, von einem Steuerlager unversteuerten Alkohol zur Herstellung von Desinfektionsmitteln im Rahmen einer steuerfreien Verwendung zu beziehen. Nach der entsprechenden Verfügung der Generalzolldirektion vom 4. März 2020 sei nicht zu beanstanden, wenn eine Apotheke, die über eine förmliche Erlaubnis zur steuerfreien Verwendung von unvergälltem Alkohol zur Herstellung von Arzneimitteln verfüge, ein so hergerichtetes Arzneimittel als Desinfektionsmittel abgebe. Diese Vereinfachungsregeln hätten der besonderen Pandemiesituation Rechnung getragen, weil unvergällter Alkohol nicht hinreichend verfügbar gewesen sei und zudem die Zollverwaltung nicht schnell genug Einzelerlaubnisse für die Verwendung von unvergälltem Alkohol hätten erteilen können.

 

21 Die praktische Möglichkeit der Klägerin, von einem Steuerlager unversteuerten Alkohol (vergällt oder unvergällt) zu diesem Zweck zu beziehen, sei nach ihrer Schilderung sicherlich pandemiebedingt erschwert gewesen. Der Bezug sei aber möglich gewesen. Es gebe bundesweit Steuerläger mit verschiedenen Lagerstätten, über welche die Klägerin – wie ihre Mitbewerber – Käufe unversteuerten Alkohols hätte abwickeln können. Im Streitzeitraum hätten Apotheken im Bezirk des HZA J insgesamt 114 unversteuerte Bezüge von insgesamt 11.965 l Alkohol mit Einzelmengen zwischen fünf und mehr als 1.000 l pro Lieferung angemeldet.

 

22 Die Beteiligten haben der Entscheidung durch den Berichterstatter ohne mündliche Verhandlung zugestimmt. Die Rechtsbehelfsakte des Beklagten (RL VSt xxx/2020) hat dem Gericht vorgelegen.

 

Entscheidungsgründe

 

I.

 

23 Die Entscheidung ergeht gemäß § 79a Abs. 3 und 4 FGO durch den Berichterstatter und gemäß § 90 Abs. 2 FGO ohne mündliche Verhandlung.

 

II.

 

24 Die zulässige Klage hat in der Sache Erfolg.

 

25 Die Ablehnung der Steuervergütung ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 101 Satz 1 FGO. Die Klägerin hat Anspruch auf die begehrte Steuervergütung.

 

26 1. Für die begehrte Steuervergütung enthält das Alkoholsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland zwar keinen Entlastungstatbestand.

 

27 2. Die Klägerin hat aber gemäß § 163 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) Anspruch auf die begehrte Steuervergütung.

 

28 Nach dieser Vorschrift können Steuern niedriger festgesetzt werden und einzelne steuererhöhende Besteuerungsgrundlagen können bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Sachliche Unbilligkeit i.S.d. § 163 AO ist nach ständiger Rechtsprechung dann anzunehmen, wenn ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis zwar nach dem gesetzlichen Tatbestand besteht, seine Geltendmachung aber mit dem Zweck des Gesetzes nicht zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwiderläuft (vgl. BFH-Urteil vom 16. November 2005, X R 3/04, BStBl II 2006, 155, m.w.N.). Billigkeitsmaßnahmen dienen der Anpassung des steuerrechtlichen Ergebnisses an die Besonderheiten des Einzelfalls, um Rechtsfolgen auszugleichen, die das Ziel der typisierenden gesetzlichen Vorschrift verfehlen und deshalb ungerecht erscheinen. Sie gleichen Härten im Einzelfall aus, die der steuerrechtlichen Wertentscheidung des Gesetzgebers nicht entsprechen und damit zu einem vom Gesetzgeber nicht gewollten Ergebnis führen (BFH, Beschluss vom 28. November 2016, GrS 1/15, BStBl II 2017, 393).

 

29 § 155 Abs. 4 AO bestimmt, dass die Vorschriften über die Steuerfestsetzung für Steuervergütungen sinngemäß anwendbar sind. Deshalb kann im Wege des § 163 AO aus Billigkeitsgründen eine Steuervergütung festzusetzen sein, wenn deren Versagung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre (vgl. FG Hamburg, Urteil vom 26. November 2010, 4 K 287/09, juris, Rn. 19 f.; FG Düsseldorf, Urteil vom 12. Dezember 2007, 4 K 4738/06 VSt, VM, juris, m.w.N.; bestätigt durch BFH, Urteil vom 12. Mai 2009, VII R 5/08, BFH/NV 2009, 1602, juris Rn. 23 ff.; Oellerich in Gosch, AO/FGO, § 163 AO, Rn. 11, Stand Januar 2017, m.w.N.).

 

30 Nach diesen Maßgaben ist die Ablehnung der begehrten Steuervergütung sachlich unbillig, denn sie widerspricht im konkreten Einzelfall der gesetzlichen Grundwertung der einschlägigen Steuergesetze.

 

31 a) Die Herstellungshandlungen der Klägerin erfüllen die Voraussetzungen einer Steuerbefreiung nach dem Alkoholsteuergesetz.

 

32 Die Art. 19 ff. der Alkoholsteuer-Strukturrichtlinie RL 92/83/EWG regeln grundsätzlich eine harmonisierte Mindestbesteuerung für den hier vorliegenden Ethylalkohol. Die Verwendung von Alkohol zur Herstellung von Arzneimitteln ist jedoch gemäß Art. 27 lit. d) RL 92/83/EWG obligatorisch steuerbefreit. Die Richtlinienvorschrift ist angesichts ihrer Eindeutigkeit unmittelbar anwendbar (BFH, Urteil vom 5. Mai 2015, VII R 22/14, BFH/NV 2015, 1291) und wird mit § 27 Abs. 1 Nr. 1 AlkStG umgesetzt. Danach sind Alkoholerzeugnisse von der Steuer befreit, wenn sie gewerblich verwendet werden zur Herstellung von Arzneimitteln durch dazu nach dem Arzneimittelrecht Befugte. Die Herstellung anderer ethanolhaltiger Waren als Arzneimittel oder Lebensmittel aus vergälltem Ethanol ist dagegen nach § 27 Abs. 1 Nr. 3 AlkStG steuerbefreit, mit dem die obligatorische Steuerbefreiung des Art. 27 Abs. 1 lit. b) RL 92/83/EG umgesetzt wird.

 

33 Nach diesen Maßgaben erfüllen die Herstellungshandlungen der Klägerin die Voraussetzungen einer Steuerbefreiung nach dem AlkStG.

 

34 Dabei kommt es nicht darauf an, ob es sich bei den Desinfektionsmitteln um Arzneimittel oder um Biozide handelt.

 

35 Der Beklagte kann der Klägerin nicht die nach seiner Auffassung gegebene Biozideigenschaft der Desinfektionsmittel entgegenhalten. Das BMF hat die alkoholsteuerrechtliche sog. fiktive Herstellererlaubnis unter dem 17. März 2020 unter der Annahme erteilt, dass es sich bei allen von Apotheken hergestellten Desinfektionsmitteln um Biozide handeln würde. Hintergrund der Regelung war, dass bestehende Abgrenzungsprobleme zwischen Arzneimitteln und Bioziden für die dringend benötigten Desinfektionsmittel ausgeblendet werden sollten und dass vergällter Alkohol, der für die steuerfreie Biozidherstellung grundsätzlich erforderlich wäre, bei weitem nicht in hinreichender Menge erhältlich war. Das BMF wollte also ausdrücklich unvergälltes Ethanol zur Herstellung von Bioziden steuerfrei stellen und damit mit vergälltem Ethanol gleichstellen. Daran muss das BMF sich festhalten lassen.

 

36 Hiervon unabhängig geht das Gericht davon aus, dass die von der Klägerin hergestellten Desinfektionsmittel den alkoholsteuerrechtlichen Arzneimittelbegriff erfüllen und nicht – wie der Beklagte und das BMF verallgemeinernd angenommen haben – stets Biozide sind.

 

37 Arzneimittel i.S.d. Alkoholsteuergesetzes sind Mittel, die von pharmazeutischen Unternehmen mit einer Heilungs- oder Verhütungsindikation in den Verkehr gebracht werden (Schröer-Schallenberg, Verbrauchsteuerrecht, Rn. G77).

 

38 Die klägerische Apotheke ist ein pharmazeutisches Unternehmen.

 

39 Die Desinfektionsmittel erfüllen zudem den alkoholsteuerrechtlich maßgeblichen Arzneimittelbegriff nach § 2 Abs. 1 Nr. 1, ggf. i.V.m. Abs. 3a AMG. Danach sind Arzneimittel u.a. Zubereitungen aus Stoffen, die zur Anwendung am menschlichen Körper bestimmt sind und als Mittel mit Eigenschaften zur Verhütung menschlicher Krankheiten oder krankhafter Beschwerden bestimmt sind. Wesentlich für die Einstufung eines Arzneimittels als Präsentationsarzneimittel ist die Zweckbestimmung des pharmazeutischen Unternehmers. Dabei kommt es auf die äußere Gestaltung an, also auf die Präsentation des Arzneimittels, die es durch den pharmazeutischen Unternehmer erhalten hat. Die Zweckbestimmung wird dem Produkt zunächst vom Hersteller beigegeben. Allerdings ist die Zweckbestimmung unter Anlegung objektiver Kriterien zu beurteilen. Für die Abgrenzung von Präsentationsarzneimitteln zu anderen Produkten ist entscheidend, wie ein Produkt gegenüber dem Verbraucher aufgrund seiner stofflichen Zusammensetzung, seiner Aufmachung und der Art seines Vertriebs in Erscheinung tritt. Nach der Rechtsprechung des EuGH kommt es dabei auf sämtliche Umstände der äußeren Erscheinungsform sowie auf den Eindruck beim durchschnittlich informierten Verbraucher an. Ein Produkt wird als Präsentationsarzneimittel eingestuft, wenn es bei einem durchschnittlich informierten Verbraucher, wenn auch nur konkludent, aber mit Gewissheit den Eindruck entstehen lässt, dass das Produkt in Anbetracht seiner Aufmachung Arzneimitteleigenschaften zur Heilung oder Verhütung menschlicher Krankheiten hat (EuGH, Urteil vom 15. November 2007, C-319/05, Kommission/Deutschland).

 

40 Das ist vorliegend der Fall. Die streitbefangenen Desinfektionsmittel wurden nach den unbestrittenen Darlegungen der Klägerin von ihr als pharmazeutisches Unternehmen mit einem überwiegenden Verwendungszweck im Gesundheitswesen (Arztpraxen, Pflegeeinrichtungen, vgl. Definition „Gesundheitswesen“ unter www.aok-bv.de, Lexikon, Gesundheitswesen, Abruf am 13. Januar 2023) zur Anwendung am menschlichen Körper hergestellt und vertrieben. Soweit die Klägerin die Desinfektionsmittel im Streitzeitraum auch an Verbraucher abgab, setzten diese die Desinfektionsmittel während der Corona-Pandemie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überwiegend am menschlichen Körper zur Verhütung von Erkrankungen – speziell von Covid 19 – ein, und nicht zu allgemeinen hygienischen Zwecken. Aufgrund der medizinischen Zweckbestimmung zur Verhütung von Krankheiten und aufgrund der Abgabe durch eine Apotheke insbesondere zur Verhütung von Infektionen mit dem Coronavirus sind die streitbefangenen Desinfektionsmittel also als Präsentationsarzneimittel einzustufen (vgl. auch DAZ Online, Dürfen Apotheken Hautdesinfektionsmittel herstellen?, Artikel vom 2. März 2020, Abruf am 13. Januar 2023).

 

41 Nach der Rechtsprechung des EuGH zur pharmakologischen Wirkung spricht daneben Vieles für eine Funktionsarzneimitteleigenschaft (vgl. EuGH, Urteil vom 6. September 2012, C-308/11; Jäkel, PharmR 2013, 261; BfArM, Mitteilung vom 9. Oktober 2009 zur Arzneimitteleigenschaft von Haut- und Händedesinfektionsmitteln zur Anwendung am menschlichen Körper).

 

42 Das Gericht widerspricht deshalb der pauschalen Behauptung des Beklagten, es handele sich bei den von der Klägerin hergestellten Desinfektionsmitteln stets um Biozidprodukte.

 

43 Die oben bejahte Eigenschaft als Arzneimittel geht einer etwaigen Biozideigenschaft gemäß § 2 Abs. 3a AMG und gemäß Art. 2 Abs. 2 UA. 1 lit. c) der Biozidprodukteverordnung (EU) Nr. 528/2012 (VO (EU) Nr. 528/2012) vor. Der für die Einordnung als Biozid häufig angeführte Durchführungsbeschluss (EU) 2016/904 über 2-Propanol-haltige Produkte gilt für Ethanol nicht.

 

44 b) Die Versagung der Steuervergütung widerspricht unter den Umständen des Einzelfalls als Härtefall der gesetzlichen Grundwertung.

 

45 (Sachliche) Billigkeitsmaßnahmen sind dann angebracht, wenn es beim Vollzug einer im Allgemeinen verfassungsmäßigen Norm in einer geringen Zahl von Härtefällen zu verfassungsrechtlich bedenklichen Problemlagen kommt (vgl. BFH-Beschluss vom 26. November 2003, X B 124/02, BFH/NV 2004, 754; FG München, Urteil vom 26. Mai 2009, 12 K 3947/08, juris, Rn. 31).

 

46 Ein Härtefall im Sinne des § 163 AO liegt hier vor.

 

47 Angesichts des bereits im Branntweinmonopolgesetz fehlenden und in das Alkoholsteuergesetz nicht aufgenommenen Entlastungstatbestands bei steuerfreier Verwendung ist zwar anzunehmen, dass der Gesetzgeber keinen solche Entlastungstatbestand regeln wollte, was grundsätzlich Art. 27 Abs. 6 RL [9]2/[8]3/EWG entspricht. Das Gericht ist indes davon überzeugt, dass der Gesetzgeber dabei eine Situation wie die streitbefangene nicht berücksichtigt hat. Dass das Alkoholsteuergesetz keinen Entlastungstatbestand bei der Verwendung zur obligatorisch privilegierten Arzneimittelherstellung (bzw. lt. BMF-Erlass gleichzubehandelnden Biozidherstellung) enthält, entspricht nur in dem (Regel-)Fall dem unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass es auch praktisch die Möglichkeit eines unversteuerten Alkoholbezugs gibt (vgl. FG Hamburg, Urteil vom 22. Juni 2020, 4 K 144/17, juris, Rn. 83, 86, 89, 91). Es ist nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber der klägerischen Apotheke in einer Pandemielage die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung unter Verletzung des Effektivitätsgrundsatzes verweigern wollte (vgl. zum Effektivitätsgrundsatz im Verbrauchsteuerrecht EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2022, C-553/21, Shell; Falkenberg, ZfZ 2020, 322, 329; Friedenhagen, ZfZ 2022, 130, 131).

 

48 Die Klägerin war nicht nur gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 ApBetrO verpflichtet, einen für eine Woche ausreichenden Vorrat von Desinfektionsmitteln vorzuhalten, wobei ihre Desinfektionsmittel im Streitzeitraum auch bei großen Anstrengungen jeweils nur wenige Stunden ausreichten.

 

49 Sie handelte zudem im besten Sinne unter Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Verantwortung, indem sie das ihr Mögliche unternahm, ihre Kunden vor einer bislang nicht hinreichend erforschten todbringenden Pandemie – einer Situation höherer Gewalt – zu schützen. In ihrer Fernsehansprache vom 18. März 2020 – während des Streitzeitraums – mahnte die seinerzeitige Bundeskanzlerin Angela Merkel angesichts einer Herausforderung von historischem Ausmaß Solidarität und Disziplin im Kampf gegen das Coronavirus an. Schulen und Kitas waren bereits geschlossen. Am 22. März 2020 beschlossen Bund und Länder Ausgangsbeschränkungen für die gesamte Bevölkerung.

 

50 In diesem zeitlichen Zusammenhang unternahm die Klägerin das ihr Zumutbare, um unversteuerten Alkohol oder Isopropanol zu beziehen, womit sie angesichts der explosionsartig angestiegenen Nachfrage keinen Erfolg hatte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch die Steuerläger mit einer Vielzahl von Anfragen zu tun hatten, auf die sie logistisch nicht vorbereitet sein konnten. Es war der Klägerin nicht zumutbar, ihre Zeit über das investierte Maß hinaus mit weitgehend erfolglosen Anfragen zu verbringen, während sie weit außerhalb üblicher Arbeitszeiten – nachts – manuell Desinfektionsmittel herstellte.

 

51 Dass die Klägerin die von ihr getragene Alkoholsteuer nicht auf ihre Kunden überwälzte, dürfte für die Prüfung einer sachlichen Unbilligkeit zwar für sich genommen nicht ausschlaggebend sein (vgl. BFH, Urteil vom 19. Oktober 1982, VII R 45/80, BStBl II 1983, 51; Oellerich in Gosch, AO/FGO, § 163 AO, Rn. 142, Stand Januar 2017). Es spricht aber jedenfalls nicht gegen ihre Rechtsposition.

 

52 c) Für die Gewährung der Steuervergütung liegt ein Fall der Ermessensreduktion auf Null vor.

 

53 Wird tatbestandlich eine sachliche Unbilligkeit bejaht, bleibt im Rahmen des Entschließungsermessens kaum noch Raum für eine eigenständige Ermessenausübung (Ermessensreduktion auf Null; Oellerich in Gosch, AO/FGO, § 163 AO, Rn. 185, Stand Januar 2017, m.w.N.). Bejaht der BFH die Unbilligkeit der Besteuerung, kommt er im zweiten Schritt durchweg dazu, eine Ermessensreduktion auf Null anzunehmen, oder er problematisiert die Frage des Ermessens nicht und weist entweder die Revision der Finanzbehörde zurück oder ändert auf die Revision des Klägers die Vorentscheidung und verpflichtet die Finanzbehörde zum Erlass (BFH, Beschluss vom 28. November 2016, GrS 1/15, BStBl II 2017, 393, Rn. 100 ff., 104).

 

III.

 

54 Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

 

55 Eine grundsätzliche Bedeutung der Fallfragen ist auch deshalb nicht ersichtlich, weil die vorliegende Konstellation nach Auskunft des Beklagten einen Einzelfall darstellt, § 115 Abs. 2 FGO.